Geschichten, Bräuche und Vertellkes

Es gibt heute nur noch wenige Leute, die die alten Sitten und Gebräuche, wie sie früher in unserer alten Heimat üblich waren, kennen. Es ist allergrößte Eile geboten zu sammeln,, aufzuschreiben und somit für unsere nachfolgenden Generationen festzuhalten. Die Uberlieferungen aus Chroniken sind mehr oder minder verloren gegangen.

Was uns geblieben ist, sind die Mund-zu-Mund-Überlieferungen der Erlebnisgeneration. Der Abstand zur Vertreibung wird immer größer. Die Erinnerung verschwimmt immer mehr.

Pommern mit ca. 460 km Ostseeküste, eines unserer wichtigsten Anbaugebiete der landwirtschafllichen Erzeugnisse wie Kartoffeln und Korn.

Wenn die Kartoffeln in Mieten und Kellem geborgen sind und der Herbstwind dann durch die braunen Wälder saust, wenn die Rüben als letzte Frucht in die Kastenwagen rummeln und der ledrige Geruch ihrer abgeschnittenen Blätter sich mit dem des faulenden Laubes vermischt, wenn die Gänse mit prallen Fettbäuchen in ihren winterlichen Federkleidem stolz durch die Straßen ziehen: Dann hat sich der Jahreskreis des bäuerlichen Werkens wieder geschlossen. Dann führen die langen Abende die Hausgenossen um den Kachelofen zusammen. Jetzt ist auch einmal Zeit während stiller Hausarbeit, alte Geschichten, Schnurren und Vertellkes vorzubringen

Wir Kinder saßen dann ganz andächtig und lauschten den Alten. Eine besonders gruselige Erzählerin war meine Tante Marie aus Stettin. Sie war einige Jahre auf dem Gut in Schwartow in Stellung gewesen. Der Gutsbesitzer war ein Freimaurer. Wenn sie nun seine Zimmer aufräumte, war eines abgeschlossen. In diesem rumpelte und polterte es, obwohl sie wußte, daß der Herr verreist war. Man sagte ihm nach, als Freimaurer könne er sich auf zwei Stellen zugleich aufhalten.

Nach der Einführung ging es weiter: Der Mann ohne Kopf ging wieder um, der Teufel trieb sein Wesen!

Der Alf flog zum Schornstein herein und die Magd hat den Kuhjungen geritten. An den Lindwurm, der im Lebamoor hauste, will man nicht so richtig glauben. Ich drückte mich immer tiefer in die Ecke der Ofenbank.

Wenn der erste Schnee fiel und es draußen stiemte, war es nicht mehr weit bis Weihnachten.

Dann ist ja auch der wilde Jäger los.
Heilig Abend kommt der Schimmelreiter mit dem Schnapbock.

Im Gefolge finden wir dann den Storch. Er pickt mit dem langen Schnabel nach den Mädchen, das Juchzen und Gequietsche will kein Ende nehmen.

Der Schornsteinfeger mit dem Rußquast, der grimmige Erbsbär, der mit der langen Kette klirrt und tanzen muß. Sie folgen der Fiedel und Ziehhammonika von Hof zu Hof.

So verscheucht für wenige Stunden diese höchst sonderbare Gesellschaft die winterliche Ruhe in unseren pommerschen Stuben.

In der Nacht des heiligen Abends mit Glockenschlag 24.00 Uhr kann man alle Tiere in ihrer Unterhaltung für eine Stunde verstehen. Das beschwor unser Knecht bei allem, was ihm heilig war. Er sei selber Zeuge einer solchen Unterhaltung geworden. Was er nicht bemerkt hatte, daß sich einige Gestalten zum Schabernack im Stall versteckt hatten und die Unterhaltung führten.

Das dörfliche Leben in unserem östlichen Zipfel Pommerns kennt wenige festliche Höhepunkte. Es war geprägt von einem enormen Fleiß und Pflichtbewußtsein. So wurden diese wenigen Anlässe auch wahrgenommen und ausgekostet.

Eine Bauernhochzeit dauerte eine ganze Woche. Die Vorbereitung mit Schlachten und Wursten begann weit vorher. Zu erwarten war dann zum letzten mal der Hochzeitsbitter Steif gekleidet mit einem Zyilnder auf dem Kopf.

Zu Ostern war der Brauch des Schmakkosterns. Mit diesem Ausruf: „Stiep, Stiep Osterei. Gib’s du mir kein Osterei, stiep ich dir dein Hemd entzwei.“

Zu Ostern aber gehörte ebenso, vor allem in Hinterpommern, das vielbelächelte Osterwasser holen. Die weibliche Jugend betätigte sich da in vielfacher Weise in der Osternacht, holte still in aller Frühe das als Schönheitselixier gerühmte Wasser, wobei es darauf ankam, während des Wasserholens niemandem zu begegnen und auch mit niemandem zu sprechen, weil sonst das Wasser seine vielversprechende schönheitsbildende Wirkung verlor.

Die männliche Jugend, die ohnehin nicht an die Heilkraft des Wassers glaubte und die ganze Prozedur für Hokuspokus hielt, machte sich Jahr für Jahr einen Spaß daraus, die Mädchen beim Wasserholen zu überraschen und anzusprechen. Dadurch wurde nach dem Glauben der Mädchen aus dem Osterwasser schlichtes Schlatterwasser.

Der frische Kalmus wurde in die Fenster gestellt. Er duftete nach Frühling und Honig.

Nun begann die Bestellung der Felder, Es wurde geackert, geeggt, gesät und gepflanzt, Eine harte Zeit begann für die Landwirtschaft.

Dann der Erlös für alle Plagerei: Die Erntezeit von September bis Oktober

Die große Erntezeit begann.

Beim Kartoffelsammeln war immer eine bunte Schar von Frauen zu beobachten, die mit einem Korb aus Draht‑ oder Holzgepflecht hinter der Kartoffelsammelmaschine herging und alles aufsammelte, was von der Maschine nicht erfaßt wurde.

Bald darauf folgte die Ernte von Roggen, Weizen und Gerste. Im Dorf und auf den Gütern ein Höhepunkt. Beim ersten Schnitt mit der Sense rief der Bauer: „Help Gott“ und wenn er das Korn einfuhr, streute er eine Handvoll Körner vor das Scheunentor und sprach dabei die als magische Formel ersonnenen Worte: „Maus, hier hast du das Deine, laß mir das Meine“. Als Höhepunkt und als Abschluß der eingebrachten Ernte folgte das Emtefest mit Tanz und Schmaus auf der Tenne. Der Dank an den Herrgott für die gelungene Emte. Beim Emtedankfest barst der Altar von den gespendeten Gaben der Bauem, denn der Pommer war und ist ein tiefgläubiger Mensch.

Das Federvieh lief über den Hof. Enten, Puten und Gänse.

Einer dieser Anlässe war das Weihnachtsfest. Es wurde besonders vorbereitet. Im November kam der Frost mit dem Schnee. Alle bäuerlichen Arbeiten kamen zur Ruhe. Die geschlachteten Gänse, Puten und Enten traten ihre Reise in die Städte an. Die Mutter fuhr in die Stadt, um wichtige Sachen zu erledigen. Sie kam bepackt nach Hause.

Es begann eine geheimnisvolle Zeit.

An den Fenstem gingen die Eisblumen nicht mehr weg, trotz der Doppelfenster. Der Weg zur Schule jeden Morgen betrug drei Kilometer. Und das zu Fuß.

Wenn die Mutter uns losschickte, guckten nur die Augen und die Nasenspitze raus, das andere war alles eingepackt. Trotz allem verging die Zeit bis zum Fest so schnell. Man wurde immer aufgeregter und aufgeregter.

Die Weihnachtsbäckerei war in vollem Gange. Überall duftete es sooo verlockend. Wie war es denn beim Plätzchen backen?

Der Küchentisch wurde mit Mehl bestreut. Dann der Teig mit der Rolle ausgerollt und mit Förmchen ausgestochen. Ab und zu verschwand ein Stück Teig im Mund, der Hinweis „du bekommst Bauchweh“ wurde gerne in Kauf genommen.

Man könnte in seinen Betrachtungen beliebig fortfahren. Es gibt noch so viel zu erzählen und zu erhalten. Es sollte nur und kann auch nur ein kleiner Abriß von Geschichten, Bräuche und Vertellkes aus dem blauen Ländchen sein.

Jürgen Weiher
Januar 2005